Changing Horizons

Wer tanzen kann mit Winden

Zwei Sportflugzeuge kreisen über dem Gelände, eins davon zieht ein Banner mit der Aufschrift „Wer tanzen kann mit Winden“ hinter sich her. Es ist eine Zeile aus dem Gedicht „An den Mistral“ von Friedrich Nietzsche, das von Michael Klant aufgegriffen wurde.

Zur documenta schrieb ich „der Betrachter ist Teil des Kunstwerkes“, und dass Besucher und Kunstwerk miteinander interagieren. Bei „bewegter wind“ ist dies ebenfalls so, aber es kommt noch eine dritte Komponente hinzu: Die Natur mit ihren vielfältigen Ausdrucksformen. Doch nicht nur der Wind, der es den Künstlern besonders angetan hat, spielt hier eine Rolle. Auch das Licht in seinen zahlreichen Varianten ist, so Kuratorin Reta Reinl, besonders am Burgberg oberhalb von Trendelburg-Deisel gewissermaßen Teil der Kunst. Das führt zu Bewegung auf vielen Ebenen.

Gruppenbild der anwesenden Künstler
Gruppenbild der anwesenden Künstler

„Changing horizons“ ist das Motto des achten Windkunstfestivals „bewegter wind“, das in diesem Jahr im höchsten Norden Hessens stattfindet. Trendelburg, Hofgeismar und Offenberg sind die Standorte, an denen über 40 Kunstwerke zu sehen sind. Zur Ausschreibung gingen laut Website 158 Bewerbungen von Künstlerinnen und Künstlern aus 25 Ländern und 4 Kontinenten ein. Die Vielfalt an Ideen und Entwürfen ist schon allein hier in Trendelburg beeindruckend. Nicht nur quasi-statische Objekte sind zu sehen, wie man es von einer Kunstausstellung gewohnt ist. Auch die Flugperformance zu Beginn lässt erkennen, dass die Künstlerinnen und Künstler ihre ganz eigene Sicht auf das Thema mitgebracht haben. So vielfältig und oft unberechenbar wie die Natur sind auch die Werke, bei deren filigraner Ausführung man manchmal befürchten muss, dass sie nicht bis zum Ende durchhalten.

Zumindest bei dem Werk „Blow the House Down“ der niederländischen Künstlerin Anna Belleforte scheint dies aber keine Befürchtung zu sein, sondern sogar Intention. Da schlage ich spontan den Bogen zu dem „Template“ des chinesischen Künstlers Ai Weiwei, das auf der documenta 12 vor neun Jahren gerade mal fünf Tage im ursprünglichen Zustand durchgehalten hat. Auch dort war es, wen wundert’s, der Wind.

In Deisel ist der Wind zwar mehr als willkommen, jedoch gab es auch hier einige Probleme damit. So berichtete Britta Ischka, dass sie für ihr Werk „Wellenberge“ sehr lange suchen musste, bis ein Standort auf dem Gelände gefunden war, wo die Segel nicht einfach weg geweht werden konnten. In der Tat ist es die langsame, wellenförmige Bewegung, die den besonderen Ausdruck dieses Kunstwerkes ausmacht. Leider erlaubte unsere Führung kaum, dort zu verweilen. Nehmen Sie sich gerne die Zeit, denn es geht eine große Beruhigung von dieser Bewegung aus, und sie ist jede Sekunde anders.

Andere Installationen hätten sogar mehr Wind gebraucht, wie Patrick Lepperts „ohne Titel“. Der Schweizer hat für diese Figur über 900 schwarze Röhren auf Seile aufgezogen, deren Gewicht nicht so einfach zu bewegen ist. Am vergangenen Sonntag war diese leider nicht in Bewegung zu beobachten.

Eine sanfte Bewegung ist auch bei „Intro I-IV“ von Jürgen Heinz aus Lorsch zu beobachten. Starke Metallrahmen auf langen Stangen bewegen sich im Wind, man glaubt es kaum. Durch die besondere Anordnung der Rahmen wird der Blick auf den Ort Deisel geleitet. Dabei wird der Blick immer mal verdeckt und wieder freigegeben, was Britta Ischka zu einer spontanen Performance anregte. Da haben wir sie wieder, die Interaktion mit dem Kunstwerk. Leider habe ich das Video im Hochformat gedreht, so dass ich es hier nicht hochladen kann. Blöde Technik 🙁

Change Y/our Honrizons (Tom Baumann, Deutschland)
Change Y/our Honrizons (Tom Baumann, Deutschland)

Lorsch liegt fast 300 km südlich von Trendelburg, die beiden Orte markieren damit gewissermaßen die Nord- und Südspitze von Hessen (geographisch ist das zwar nicht ganz exakt, aber es mag angehen). Die Metapher „Alpha & Omega“ kommt mir unweigerlich in den Sinn, was mir eine wunderbare Überleitung zu Tom Baumann aus Heidelberg verschafft. Seine Installation lebt, und das im wahrsten Sinne, denn es sind — wieder einmal — die Besucher, die in dieses Kunstwerk mit einbezogen werden. Bei „Change Y/our Horizons“ werden die Kunstinteressierten aufgefordert, bunte Fähnchen mit ihren Wünschen und ihrem Namen zu versehen und an die Stangen und Abspannseile der drei Objekte zu hängen. Dreieck/Tetraeder (Alpha), Kreis/Kugel (Omega) und Quadrat/Kubus sind die elementaren geometrischen Objekte, der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt, und die Assoziationen fließen sicher zahlreich. Natürlich liest jeder auch die Wünsche der anderen, wodurch sicher der eine oder andere Denkanstoß erfolgt. Eine Bewegung der anderen Art. In diesen Zeiten wundert es kaum, dass die Wünsche Toleranz, Liebe und Respekt häufiger vorkommen.

Während der Führung wurden noch zahlreiche weitere Werke vorgestellt, die ich hier nicht alle wiedergeben kann. Besuchen Sie die Ausstellung und lassen Sie sich vom Wind bewegen. Und vor allem: Nehmen Sie sich Zeit, denn einige Werke sind sogar „nachtaktiv“! Die Werke sind in Trendelburg, Hofgeismar (Rocholl-Park) und Offenberg noch bis zum 28. August zu sehen. Daneben gibt es noch ein paar sog. „Satelliten-Standorte“, unter anderem die Friedenseiche im Reinhardswald. Die Wege zu den Ausstellungsorten sind jeweils durch blaue Bänder gekennzeichnet. Da sich alle Kunstwerke unter freiem Himmel befinden, ist der Eintritt so frei wie der Wind, es sei denn, man möchte eine der Führungen buchen. Alle weiteren Informationen finden Sie auf http://bewegter-wind.de.

Redaktioneller Hinweis: Wir haben die Namen der Künstler mit deren Webseiten verlinkt (soweit bekannt), denn wir möchten diese auch über den Artikel hinaus unterstützen. Selbstverständlich ist jeder Künstler für den Inhalt seiner Webseite selbst verantwortlich.

Sehfahrer

Als Amateurfotograf bewege ich mich oft in den Lebensbereichen anderer Menschen. So interessant das ist, so schwierig ist manchmal die Abgrenzung zwischen Neugier und höflicher Distanz. Durch meine Tätigkeit als freier Journalist versuche ich nun, Bild und Sprache zu einer Einheit zu verbinden.

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