Unterwegs mit der Brockenbahn
Eine Fahrt mit der Brockenbahn ist schon ein Erlebnis. Diese Schmalspurbahn (1 m Spurbreite) darf seit 1992 wieder auf der historischen Strecke im Personenverkehr fahren. Die ursprünglich 1898 in Betrieb genommene Strecke wurde 1961 aufgrund des Mauerbaus unterbrochen. Laut Wikipedia wird die Strecke sowohl mit einer alten Lok aus 1898, als auch einem Neubau befahren. Der Autor schildert seine Eindrücke während einer Fahrt, die nebenbei bemerkt nicht bezuschusst wurde.
Würde ich jetzt schreiben, „die Landschaft rast an mir vorbei“, es wäre glatt gelogen. Auch wenn die alte Dampflok Lärm für zwei macht, bringt sie auf der Strecke bergan bestenfalls 25 km/h zustande. Bergab sind es dann sagenhafte 35 km/h. Zum berühmten „Blümchen pflücken“ ist das doch etwas zu schnell, weshalb der Zugführer dies wohl auch nicht bei den verbotenen Dingen erwähnt (keine brennbaren Sachen aus dem Fenster werfen und so). Auch wenn die Brandgefahr bei diesem Wetter kaum höher sein dürfte als in einer Kühltruhe, es gehört sich einfach nicht, irgend etwas aus dem Fenster zu werfen. Dass so etwas erwähnt werden muss, sagt einiges über die Klientel aus, mit denen es der Schaffner üblicherweise zu tun bekommt.
Die Waggons scheinen, wie auch die Lok selbst, aus dem vorigen Jahrhundert zu stammen. Zählte ihr Alter bereits dreistellig, es würde mich nicht wundern. Das ist keine Kritik, es macht ja gerade den Reiz dieses Abenteuers aus. Im Innern finden wir gemütliche gepolsterte Leder- und Stoffsitze, mit oder ohne Tisch am 4er-Platz. Es gibt nicht viel Beinfreiheit, aber da die Bahn nicht randvoll ist, geht es. Es ist Montag, und seit vielen Tagen scheint erstmals wieder die Sonne. Auch wenn Schneelandschaft fast niemals öde sein kann, im hellen Sonnenlicht sprüht sie geradezu vor Fröhlichkeit. Die vereinzelten Sonnenflecken verleihen dem Wald ein besonderes Flair, welches ich kaum zu beschreiben vermag; man muss es einfach gesehen haben. Auch das Smartphone ist bei so viel Schönheit schlicht überfordert.
So haben wir viel Zeit, die Landschaft auf uns wirken zu lassen. Nachdem der Zug den Bahnhof Drei Annen Hohne verlassen hat, geht es leicht holprig in Richtung Schierke und dann weiter zum Brocken. Gemächliche Links- und Rechtsschwenks ausführend rappelt und kurvt die Bahn durch den winterlichen Wald. Vorbei an winkenden Skifahrern und Wanderern geht es stets bergauf. Das anfängliche Kindergeschrei und die testosterongeschwängerten Wissensbekundungen vereinzelter Mitreisender verblassen langsam angesichts der Schönheit der Natur da draußen. Das ist eine Winterlandschaft wie ich sie mir gewünscht habe, nachdem mein Heimatdorf sich anscheinend endgültig auf die Seite der Erderwärmung geschlagen hat.
Neununddreißig Euro möchte die HSB, die Harzer Schmalspurbahn, für die Fahrt hin und zurück haben. Dafür kann ich theoretisch im gesamten Verbundnetz der HSB fahren, was aber nur dann verlockend klingt, wenn man es auch ausnutzt. Der Weg von Drei Annen Hohne bis zum Brocken dauert immerhin etwa eine dreiviertel Stunde (bergab etwas weniger), und diese Fahrt lohnt sich trotz des Preises. 3 Euro kommen noch für ein Tages-Parkticket am Bahnhof hinzu, so dass wir zu zweit auf 81 € kommen, Verzehr und Toilettengebühren am Ziel noch nicht eingeschlossen. Park-Platz ist reichlich vorhanden, die Abgrenzung der Parkflächen erfolgt quasi naturbelassen einfach durch Schneehaufen.
Fast wäre die ordnungsgemäße Abstellung der 100-pferdigen Kutsche an der mangelnden Verfügbarkeit von Kleingeld gescheitert, da die Parkuhr zwar pflichtschuldigst Euro-Münzen akzeptierte, jedoch nur in der höchst eigensinnigen Stückelung zu 50 ct, 1 € und 2 €. Hätte uns nicht eine hilfsbereite Dame mit dem fehlenden Taler ausgeholfen, wir hätten uns entweder unverrichteter Dinge wieder auf den Heimweg machen müssen, oder bei der Rückkehr den Zorn eines Schutzmannes zu befürchten gehabt. Zahlungen mit Handy oder Plastikkarte sind im Hinterland wohl noch nicht ganz angekommen, dankenswerterweise aber am Fahrkartenschalter. Wir erhielten echte kleine „Fahrkarten“, die im Laufe der Fahrt dann zünftig gelocht wurden. So konnte die Reise dann doch noch wie geplant losgehen.
Es rumpelt und ruckelt, und es will kein Ende nehmen. Kaum schaffe ich es, die Lochcamera ruhig zu halten, von aufstützen kann ohnehin keine Rede sein. Das Schreiben von Notizen oder Kurzmitteilungen ist nahezu unmöglich. Jeder Buchstabe hart erkämpft, komme ich mir fast vor wie der Schreiber im alten Römischen Reich, wie er mit Hammer und Meißel das Protokoll in Steintafeln hämmert. So beschränke ich mich auf’s Zusehen und gelegentliche Fotografieren, was trotz der verhältnismäßig geringen Geschwindigkeit nicht gerade einfach ist. Da jede besondere Einstellung an der Camera über ein Menü durchgeführt werden muss, scheitert auch dies oft an dem unsäglichen Geruckel. Doch die Fahrt ist lohnenswert, ich sehe unberührte Natur vorbei ziehen, Schneeflächen, nur durchzogen von Spuren, die durch die Pfoten irgendeines Tieres entstanden sein müssen, das jedoch nirgendwo mehr zu sehen ist. Ein Fuchs und ein Reh sind alles, was uns an vierbeiniger Natur begegnet. Und doch ist es mehr, als mir in Monaten zuvor vor die Linse gelaufen ist.
Wie abwechslungsreich der Wald sein kann! Mal steht Baum an Baum, wie Soldaten in Reih und Glied aufgestellt. Dann wieder scheinen die Bäume auf Abstand zu gehen, als ob sie den Nachbarn nicht leiden könnten. Seltsame Skulpturen von Baumgerippen wechseln sich mit weiten Schneeflächen ab, nur um kurz darauf wieder zu einem dichten Bewuchs zu werden, in dem kaum ein zartes Reh sich hindurchdrängen könnte und der Hase mit seinen langen Ohren hängen bliebe. Doch irgendwann ist auch dies vorbei und die letzten Stämme verlieren sich in der kargen Mondlandschaft, aus der ein einzelner rot-weißer Stamm herausragt. Wir sind knapp unterhalb des Gipfels angelangt. Noch eine Umrundung, während der sich der Zug spiralförmig höher schraubt, um schließlich den Bahnhof „Brocken“ erreicht zu haben. Schnaufend kommt die alte Lok zur Ruhe, sie hat ihre Arbeit getan. Für den Moment jedenfalls.
„Oh, das ist ja angenehm warm“, ist mein erster Gedanke, als ich aus dem Waggon steige. Wie sehr ich mich täuschen sollte, erfuhr ich gerade eine Sekunde später. Ich hatte wohl die einzige windstille Ecke erwischt. Auf dem letzten Teil der Reise wunderten wir uns bereits, wieso hier oben so wenig Schnee liegt. Die Vermutung, dass dieser wohl weggeweht wurde, scheint sich zu bestätigen. Laut der Anzeige im Brockenhaus beträgt die Windgeschwindigkeit recht beständig ca. 50 km/h, schneller als die Brockenbahn unterwegs war! Da bleibt kein Schnee liegen und vor allem kein Auge trocken, wenn man nicht das Glück einer windschützenden Kapuze hat.
Menschen quellen aus der Bahn, ein nicht enden wollender Strom ergießt sich auf den Bahnsteig und strömt zielstrebig in Richtung Ausgang. Vermutlich zieht es viele direkt in die Gastronomie, wir wissen es nicht und schauen auch gar nicht nach. Zunächst schieße ich ein paar Fotos von der Bahn. Der wolkenlose blaue Himmel kontrastiert sehr gut mit den Ampelfarben der Waggons, auch die tiefschwarze Lok mit ihrem knallroten Fahrwerk macht sich gut vor diesem Hintergrund.
Wir folgen der Völkerwanderung langsam bergauf. Die Bergstation liegt leider immer noch ein paar Meter unterhalb der Gebäude. 1141 m über dem Meeresspiegel zählt der Brocken, 123 m mehr, wenn man den Sendeturm mitrechnet. Irgendwo habe ich gelesen, der Brocken (auch „Blocksberg“ genannt) sei der höchste Berg Niedersachsens. Damit ist dann wohl auch endlich der Name dieses Bundeslandes erklärt (obwohl er ja eigentlich zu Sachsen-Anhalt gehört).
Nach der langen Bergtour könnte es sein, dass den Gentleman oder die Lady ein spontanes Bedürfnis überkommt. Das ist dumm, wenn es gerade auf dem Brocken passiert, denn die öffentlichen Toiletten sind durchaus gut besucht und mit einem gewissen Hindernis ausgestattet. Dieses heißt „metallene Drehtür mit Münzeinwurf“. Das ist eine neumodische Erfindung des Establishments, um unsereins das Geld aus der Tasche zu ziehen. Erschwert wird dies durch die dezidierte Auswahl einer einzigen 1-€-Münze, die gefälligst vorzuhalten ist. Das sagt einem aber auch niemand! Moderne Wegelagerei nenne ich es! Nicht dass man teures Geld für die Bahn bezahlt hat, auch die Notdurft zu verrichten wird nun noch kostenpflichtig gemacht! Schämt euch! Gottseidank gibt es einen wunderbaren Trick: Das Brockenhaus bietet nicht nur interessante naturwissenschaftliche Erkenntnisse, sondern auch einen im Preis enthaltenen, sauberen und wenig besuchten Abort. Aber nicht weitersagen 🙂
Der Legende nach soll es Hexen auf dem Blocksberg geben. Dieser gilt seit dem 17. Jahrhundert als Hauptversammlungsort der Hexen in Deutschland. Ob sie sich während der deutschen Teilung davon abhalten ließen, sich hier zu versammeln, ist meines Wissens nicht überliefert. Hexen sind gemäß der Legende hässliche alte Frauen, die auf Reiserbesen durch die Lüfte sausen und sich von nichts und niemandem etwas sagen lassen. Nicht zu vergessen die magischen Fähigkeiten, was aber vermutlich durch das Vermögen, auf einem Besen zu fliegen, hinreichend erklärt sein dürfte. Insofern ist zu vermuten, dass sie auch nicht auf Erichs Herolde gehört haben. Quidditch haben sie dabei vermutlich nicht gespielt.
Wahrscheinlich aufgrund der Jahreszeit haben wir keine erkennbaren Hexen entdecken können. Aber bei deren Fähigkeiten lässt sich das aus verständlichen Gründen nicht mit Sicherheit sagen. Dem Vernehmen nach könnte dies in etwa 2 1/2 Monaten schon wieder anders aussehen. Apropos hässlich: So ganz scheint das nicht zu stimmen. Zumindest dem Relief auf dem Haus entsprechend scheint es auch recht schnuckelige Dinger unter diesen Damen zu geben. Vielleicht ist es aber auch nur die Auswirkung der Magie, die sie uns so erscheinen lässt.
Nach einem kurzen Besuch des Brockenhauses, in dem laut Wikipedia zu DDR-Zeiten deren Abhöreinrichtungen untergebracht waren (geniale Location für diesen Zweck, wenn ich das mal so sagen darf), und das heute eine Natur-Ausstellung beherbergt, ging es dann wieder bergab zur Bahnstation. Von dort brachte uns die Brockenbahn sicher wieder nach Drei-Annen-Hohne, von wo aus wir mit unserer Kutsche die Heimreise antraten.
Technischer Hinweis: Alle Fotos wurden mit einem Smartphone (LG G4) gemacht und sowohl mit Snapseed als auch am PC mit GIMP bearbeitet. Also, liebe Münchner, Open Source ist nicht schlecht, lasst euch das mal gesagt sein!
Text und Fotos: Sehfahrer (SF)