Performances in den Henschel-Hallen, 2.–20. Juli 2017

Die große Fabrikhalle, die einst der Hauptstandort für die Produktion von Henschel-Lokomotiven und -Flugzeugen war, erzeugt ein Echo, das stark in den Performances nachklingt, die in diesem improvisierten Theater dargeboten werden. In der verwitterten, postindustriellen Umgebung erschafft Phia Ménard eine Architektur der Transformation – und verknüpft den Körper der Performer_innen mit dem Baukörper des Theaters zu Räumen und Organismen, die sich in ständigem Fluss befinden. Anschließend berühren und rütteln die Klänge des Komponisten Jani Christou – in einem Dialog mit dem Komponisten John Cage – an dem Ensemble aus Stein, Stahl und Glas, das die klangliche Umgebung des Konzerts bildet. Alexandra Bachzetsis stellt die Intimität der Bühne dem Strudel des Theaters in einer Performance gegenüber, die aus den komplexen Mustern von Maskulinität/Femininität und Vertreibung/Zugehörigkeit in der Musik und Choreografie des Rebetiko schöpft. Ebenfalls in den Henschel-Hallen plant Kettly Noël einen Streifzug, ein Détournement, das von Voodoo und Ritualen gekennzeichnet ist und ihren eigenen Körper in das Zentrum ihrer fortlaufenden Untersuchung zur Verwandlung von Individuen und ganzen Gesellschaften durch Gewalt stellt. Wenn diese Werke sich durch den verlassenen Ort hindurchbewegt haben, könnte wiederum Schweigen in einen Raum einkehren, der nun vom klanglichen, körperlichen und visuellen Nachhall erfüllt ist.

Phia Ménard, Immoral Tales – Part One: The Mother House
2., 4., 7. Juli 2017
Performance
20:30–22 Uhr

„Mein Großvater mütterlicherseits war eines der Opfer, als die Alliierten die Stadt Nantes 1943 schwer bombardierten. Als mir eines Tages klar wurde, dass wir nicht Blumen auf das Grab meines Großvaters legten, sondern stattdessen ein anonymes Massengrab besuchten, begriff ich die schreckliche Niedertracht von Bomben. Vielleicht stolperte ich damals schon in Gedanken über den Begriff ‚Marshall‘ – das Programm, das den Wiederaufbau Europas finanziell unterstützte: Man organisiert eine massenhafte Zerstörung und kümmert sich danach um den Wiederaufbau der vom Krieg verwüsteten Städte. Man baut ein ‚Marshall‘-Dorf aus zurechtgeschnittener Pappe, ebenso wie wir reihenweise Zelte aufbauen für Geflüchtete. Alles scheint perfekt zu sein, mit Ausnahme der Wolke, die aussieht, als würde sie größer und dunkler werden. Vielleicht ein Blitzschlag, ein Gewitter mit Wassermassen! Das ‚Marshall‘-Dorf verwandelt sich zu Brei, einer klebrigen Schweinerei, in der Körper versinken … “ – Phia Ménard

Künstlerische Leitung, Choreografie und Performance: Phia Ménard
Assistenz: Jean-Luc Beaujault
Musik und Klangraum: Ivan Roussel
Bühnenmeister: Pierre Blanchet und Rodolphe Thibaud
Kostüme: Fabrice Ilia Leroy
Technische Leitung: Olivier Gicquiaud
Stellvertretende Leitung, Produktion und Verwaltung: Claire Massonnet
Produktionsassistenz: Clarisse Mérot
Public Relations: Adrien Poulard
Produktionsleitung: Compagnie Non Nova

Jani Christou, Praxis for 12 (1966), Interlude mit John Cage Four6 (1990), Anaparastasis III ‚The Pianist‘ (1968)
5. Juli 2017
Konzert
20–21 Uhr

Anaparastasis III ‘The Pianist’ (1968)
Anaparastasis III ‘The Pianist’ dringt tief in die primitivste und universellste Angst der Menschheit ein – die Unfähigkeit zu kommunizieren. Unter Einbeziehung eines Pianisten (ein Schauspieler), der versucht mit dem Klavier auf unterschiedliche Weise zu kommunizieren, entwickelt sich das Werk vor dem Hintergrund eines permanenten Kontinuums elektronischer Soundfäden, die das Psychodrama insgesamt durchdringen.

Praxis for 12 (1966) „Jede lebendige Kunst erzeugt eine alles umfassende Logik, die von der Kollektivität charakteristischer Aktionen gespeist wird. Immer, wenn eine Aktion absichtlich durchgeführt wird, um mit der herrschenden Gesamtlogik, die die Kunst charakterisiert, übereinzustimmen, dann handelt es sich um ,Praxis‘. Immer aber, wenn eine Aktion absichtlich durchgeführt wird, um die herrschende Gesamtlogik, die die Kunst charakterisiert, zu überschreiten, dann handelt es sich um ,Metapraxis‘ oder um eine absichtlich nicht-charakteristische Aktion: eine ,Meta-Aktion‘ … Wenn zum Beispiel ein Dirigent ein Konzert dirigiert, dann ist das eine Praxis, wird er aber auch dazu angehalten herumzugehen, zu sprechen, zu schreien oder irgendeine andere Aktion auszuführen, die nicht im strengen Zusammenhang mit dem Dirigieren selbst steht, dann kann das eine Metapraxis sein … Eine Metapraxis ist eine Implosion, eine Spannung unter der Oberfläche eines einzelnen Mediums, die genau die Bedeutungsschranke dieses Mediums bedroht … Ein Bruch innerhalb einer einzelnen Ordnung der Dinge.“ – Jani Christou

Dirigent: Rupert Huber
Performer: Ergon Ensemble, Tejo Janssen

Alexandra Bachzetsis, Private Song (2017)
10.–13. Juni 2017
Performance
22–23 Uhr

Alexandra Bachzetsis Private Song schlägt die Rahmung als Wahrnehmungsstrategie vor, um die Beziehung der Betrachter_innen zu den sich bewegenden Körpern auf der Bühne infrage zu stellen, zu unterstreichen oder zu neutralisieren. Populäre Rembetiko-Lieder – komponiert von Giannis Papaioannou, Vassilis Tsitsanis und Giorgos Mitsakis – aus den 1940er und 1950er Jahren werden in diesem Stück eingeführt, allerdings nicht als Erzählmotiv, sondern als Mittel der Gegenüberstellung der einzelnen Stimmen und kodifizierten Gesten, die ebenso vom orientalischen und modernen Tanz wie vom Wrestling, den Geschlechtermodellen Hollywoods und der Geschichte der Bildmotivik von Liebe und Schlacht herrühren. Durch diese Akte einer neuen Rahmung erzeugt Private Song eine trügerische Inszenierung, die als Vorrichtung für das Kanalisieren von Wahrnehmung und Affekt dient, was letztendlich die Stellung der Betrachter_in verschiebt.

Kettly Noël, Errance (2004/2017)
19.–20. Juli 2017
Performance
20–20:35 Uhr

Spuren oder Fragmente von außer Kraft gesetzten und unterdrückten Gesten – Gefangene eines Körpers, der sich danach sehnt, die Geschlechter und Antlitze eines „Anderswo“ auszudrücken, werden von ihr, der Performerin Kettly Noël, heraufbeschworen. Die Spannung, die Überraschung, der Schrecken und die Freude, die man ihrem Gesicht ablesen kann, erzeugen eine innere Welt, in die wir eingesogen werden. Es ist uns unmöglich, uns zu befreien: Wir sind gefangen – gefangen, in die Falle gegangen, getadelt, vom Spiel umgarnt. Jede Bewegung übermittelt Mehrdeutigkeit. Eine Liebkosung wird zum Hieb, ein Schritt kann sich in einen Absturz oder einen Rückschritt verwandeln, Begehren kann in Unterwerfung umschlagen. Sie könnte ein Kleid tragen, ein Leichentuch oder eine Zwangsjacke … Indem sie die Grenzen zwischen Henker und Opfer, Kind und Erwachsenem, Mann und Frau verschwimmen lässt, verweigert die Performerin Trennung. Von diesen unterschiedlichen Zuständen der Herrschaft und der Gewalt ins Äußerste gedrängt, sucht sie diese Kraft freizusetzen, die alles enthalten könnte.

Konzept, Performerin: Kettly Noël
Szenografie: Michel Meyer
Licht: Samuel Dosière

Wegbeschreibung
Henschel-Hallen, Wolfhager Straße 109, B251, 34127 Kassel
Bus 18 und 19, Haltestelle Siemensstraße
Die ehemaligen Fabrik-Hallen sind stadtauswärts an der Wolfhager Straße gelegen. Der Fußweg vom Friedrichsplatz beträgt etwa 30 Minuten. Wir empfehlen daher die Anreise mit den öffentlichen Verkehrsmitteln, dem Fahrrad oder dem Auto. Bitte beachten Sie die Fahrzeiten des öffentlichen Nahverkehrs. Ausreichend Parkmöglichkeiten stehen vor Ort zu Verfügung.

Eintritt
Abends: Eintritt 10 € / 2 € mit gültigem documenta 14 Ticket.
Karten für die Abendveranstaltungen an den documenta 14 Verkaufsstellen und an der Abendkasse.

PM: documenta 14 (JH)

NHR

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