Nordhessen sollte einen Anspruch auf Infrastruktur haben!
Um 1710 hatte der weitsichtige und merkantil orientierte Landgraf Karl eine Vision: Der Landgraf-Carl-Kanal sollte als Bindeglied einer internationalen Schifffahrtsstraße zwischen Nordsee und Mittelmeer das Staatsgebiet von Hessen-Cassel durchqueren. Die ersten Kanalkilometer wurden sogar schiffbar gebaut. Noch heute zu sehen übrigens. Mit dem Tode Carls endete das Investment. Der Anschluß an Main und Rhein wäre sicherlich ein großer Schachzug gewesen, auch wenn das Projekt eine gewisse Utopie nicht verleugnen ließ. Aber ohne Utopie keine Innovation, keine Fortentwicklung.
In 1989 wurde eines der großen geplanten Verkehrsprojekte Deutsche Einheit als Zukunftsinvestment gefeiert: der Bau der A44 als Lückenschluß zwischen Kassel und Eisenach. Die historische West-Ost-Verbindung von der Nordsee nach Dresden und weiter schien endlich Realität zu werden. Bis heute ist die Autobahn nicht fertiggestellt – als einziges Projekt auf der damaligen Agenda.
Zweimal wurden die Menschen der Region abgekoppelt. Zum Glück hält der ICE in Nord-Süd-Richtung die Mobilität modern aufrecht. Und wir erinnern uns: fast wäre auch dieser an Kassel vorbeigefahren, weil es eine breite Front gegen ihn gab. Heute fast unvorstellbar.
In 2013 eröffnete der Flughafen Kassel-Calden II. Ein eigentlich nur verschwenkter Flughafen, der endlich seine Runway in die richtige Richtung weg vom Dörnberg bekam. Die Planer hatten in den 70er Jahren einen kleinen Flughafen in Kassel im Auge, einen Großen in Frankfurt. Die Legende sagt, man habe die Startbahn daher bewusst Richtung Dörnberg genehmigt. Gute Prognosen für die Entwicklung der Luftfahrt und die Forderung und Förderung der EU nach flächendeckenden Anschlüssen ließen nun eine gute Entwicklung für den neuen Flughafen in Calden erwarten. Ein breiter politischer Konsens war vorbildlich, eine pünktlichste Fertigstellung sensationell. Ein Großprojekt in Deutschland als Vorzeigeobjekt!
Die Medien machten leider rasch etwas anderes daraus: Wer benötigt diesen Flughafen?
Nun ist Kassel Airport in Turbulenzen, im ruhigen Auge des Taifuns angekommen. Rund 8 Mio. Euro Verlust pro Jahr beunruhigen die Gesellschafter und rufen Kritiker auf den Plan. Herabstufung wird gefordert an statt den Aufbruch zu proben. Die Welt der Fliegerei ist aber im Umbruch. Alte Koordinatenkreuze werden neu sortiert. Da muß nun auch Kassel Airport seinen Weg und die neue Rolle finden. Zur Not auch mit neuen Subventionsrichtlinien aus Brüssel. Denn die Fluggesellschaften sind mittlerweile in der Rolle der Mächtigen. Nicht die „Haltestelle Flughafen“ vorhalten genügt, sondern die Airlines locken und gewinnen scheint das Marketingziel. Frequenz muß auf den Platz. Die lockt wiederum Frequenz.
Ich kann nur Fenster bauen und anbieten, kenne das Luftfahrtgeschäft nicht. Aber mich treibt die Notwendigkeit eines Anschlusses der Region an das Netz um als Regionalpatriot, als kommunalpolitisch Interessierter und als Unternehmer. Standortpolitisch braucht eine so dynamische Region wie Kassel/Nordhessen einen Flughafen. Das ist meine Überzeugung. Und es darf auch etwas kosten und es darf auch dauern. Aber es ist der Punkt gekommen, an dem es nun aufwärts gehen muß, im wahrsten Sinne des Wortes. Kassel war schon immer Standort der Luftfahrtindustrie und hatte einen Flugplatz, vor dem Krieg gar mit Linienanschluß. ÖPNV mit RegioTram verlangen fast selbstverständlich nach Millionensubventionen in unserer Region. Politisch ist das eingetaktet, nicht diskutabel, d´accord sozusagen. Beim Airport wird jeder rote Euro zum Groschengrab ausgerufen. Es muß Flugbewegung her.
Ist diese da, wird Konkurrenz kommen und weiterer Verkehr. Leicht gesagt, schwer zu realisieren in diesen Tagen – das ist klar!
Der Anschluß an das Luftverkehrsnetz, ein Hub nach München, Zürich, Wien oder Amsterdam, ist ein wichtiger Punkt auf der Landkarte zukünftiger Chancen im Konzert europäischer Regionen. Der touristische Charterverkehr ist ein notwendiger Effekt. Er bringt Volumen und Frequenz. Schön, daß die neue SundAir Kassel als Standort gewählt hat und rund 60.000 Passagiere einbringen wird. Da sieht man, was ein fest stationierter Flieger bringt! Fracht spielt wohl eher eine untergeordnete Rolle.
Neben der Digitalisierung wird die generelle Erreichbarkeit des Wirtschaftsstandortes Kassel/Nordhessen ein entscheidendes Kriterium sein für den Wettbewerb der Regionen. Der Mensch muß rasch und bequem kommen und gehen können.
An einem Punkt muß man aufklären: Die nordhessische Wirtschaft darf man keinesfalls zum Sündenbock machen. Sie hat nicht versprochen, den Airport zum Laufen zu bringen. Der Bau ist nicht auf dem Ticket der Wirtschaft vorangekommen, sondern auf Grund seinerzeit aktueller Marktzahlen, kommunalpolitischer Einigkeit sowie regionalpolitischer Entwicklungsszenarien auch aus EU-Quellen. Wenn nun ein Angebot kommt, wird die Wirtschaft es nutzen.
Wer benötigt nun diesen Flughafen? Die ansonsten abgekoppelten Bürger Nordhessens, die Wirtschaft allgemein, die in Kassel ansässige flugaffine Industrie sowieso und der Touristikstandort im Brüder-Grimm-Land ebenfalls. Kein Märchen! Man muß Kassel/Nordhessen auch aus der Luft gut erreichen können. Die Gemengelage bleibt unübersichtlich. Der hessische Wirtschaftsminister schaute nach Genehmigungen an die FRAPORT für die Billigflieger, die nach Kassel angeblich wegen europäischer Förderrichtlinien nicht fliegen dürfen. Zum Glück wurde das noch einmal neu bewertet.
Das Land Hessen ist übrigens wichtiger Anteilseigner in Frankfurt und in Kassel. Der FRAPORT-Chef ist gleichfalls Vorsitzender des Verbandes der Luftverkehrswirtschaft (BDL) in Deutschland. Man kauft Flughäfen in Griechenland. Man macht sich Sorgen, daß Kunden „nördlich Limburg immer weniger nach Frankfurt zum Fliegen kommen“. Und möglicherweise wird sich in diesem Zusammenhang die Lufthansa mit der Kurzstrecke untreu, bindet Paderborn aktuell an Frankfurt an, geht in Konkurrenz zum ICE.
Wenn man da nicht die Chancen für Kassel durch Entscheidungen an Main und Rhein schief bewertet? Ein Mehr „hessisches Miteinander“ im Duett wäre gut.
Dem neuen Management am Kasseler Platz darf man Erfolg wünschen für eine Trendwende, damit das Gespenst vom „Zukunftscheck“ vertrieben werden kann. Nordhessen benötigt keinen Rückfall.
Die Vision: man besinnt sich, schmiedet neue Allianzen zwischen Politik und FRAPORT, macht Kassel Airport zu einem europäischen Hessen-Projekt für Infrastruktur – ein Flughafen mit angemessenem Verkehr und guten Verbindungen – und einem Gewerbegebiet on top. Kassel/Nordhessen als Hessens XS- und Frankfurt als Hessens XXL-Airport. Damit der Kanal dann zumindest fast 300 Jahre später sinnbildlich fließt. Sozusagen märchenhaft wachgeküsst.
Autor: Dr. Frank Walter (Walter Fenster + Türen).