Deutsche Flüchtlinge

Refugee Island
Quelle: Flickr, Lizenz: CC BY-NC-ND 2.0

Heute ist der „Tag der Deutschen Einheit“. Warum eigentlich? Nun, wir erinnern uns: Es war am 9.11.1989. Also auch eine Art Nine-Eleven, betrachtet man nur die Zahlen. Die Innerdeutsche Grenze, dieser „Antifaschistische Schutzwall“, war plötzlich offen und unzählige Flüchtlinge strömten in den vorgeblich „freien Westen“. Diese Differenzierung schien gerechtfertigt, schließlich waren die Bürger der DDR seit dem 13. August 1961 (dem offiziellen Tag der Mauerfertigstellung) quasi eingesperrt. Im Gegensatz zu den „Ossis“ konnten wir „Wessies“ überall in der Weltgeschichte herumreisen, sofern wir uns das leisten konnten. Denn dass im Westen keineswegs nur reiche Bonzen herumsitzen und dicke Portemonnaies schleppten, wird sicher alsbald auch der letzte aus den Ländern im Osten, die später „neue Bundesländer“ genannt wurden, begriffen haben. Wir hatten im Westen also auch unsere Begrenzungen, nur entstanden sie durch die finanziellen (Un-) Möglichkeiten.

Flüchtlinge habe ich sie genannt; natürlich nur, um ein wenig zu polarisieren. Genaugenommen waren es ja auf einen Schlag „freie Bürger“, die von der neuen Reisefreiheit nun auch Gebrauch machen wollten. Die echten DDR-Flüchtlinge, die in den Jahrzehnten zuvor über die Grenze kamen, hatten diese Freiheit offiziell noch nicht. Sie haben sie sich unter Gefahr von Leib und Leben hart erkämpft. Menschen, die von Deutschland nach Deutschland flohen. Diese Flüchtlinge, von denen nicht wenige erwischt oder durch die automatischen Waffen der Grenzsicherung getötet wurden, haben unseren Respekt verdient, mehr vielleicht als die, die dann später herüber kamen. Ihre Kreativität, ihre Heldentaten habe ich schon vor diesem denkwürdigen Tag im „Museum am Check Point Charlie“ in Berlin bestaunt.

Aber warum nun der 3.10., nicht der 9.11. und auch nicht der 17.6., der seit 1954 „Tag der deutschen Einheit“ war? Ganz einfach: Am 3.10. wurde der Vertrag unterschrieben, mit dem die DDR sich an die BRD anschloss. Also eigentlich eine ziemlich willkürliche Festlegung, so wie das Gründungsdatum eines Vereins das Datum der konstituierenden Sitzung ist. Weil da alle Zeit hatten und man dieses Meeting folglich durchführen konnte. Wahrscheinlich hat man Stress gehabt, dass es nicht versehentlich auf den 7.10. verschoben werden musste, dem Tag der DDR-Staatsgründung. Das wäre ein fatales Signal gewesen!

Es gab also auch in der deutschen Geschichte schon länger eine Flüchtlingsthematik. Immerhin damals ohne Sprachbarriere, wenngleich manche Menschen Sächsisch auch heute noch als eine Fremdsprache betrachten. Damals haben wir Witze gemacht. Die legendäre „Zonen-Gabi“ mit der geschälten Gurke in der Hand und dem Titel „Meine erste Banane“ ist uns sicher allen noch in Erinnerung. Heutige Witze über Flüchtlinge würden sich vermutlich auf dem Niveau von „Nur ein toter Indianer ist ein guter Indianer“ bewegen und sind schon aus rein menschlicher Sicht damit inakzeptabel. Echte Flüchtlinge, ob sie nun vor einem Krieg oder aus unmenschlichen politischen Verhältnissen kommen, benötigen unsere Hilfe, unser Mitgefühl. Das Recht auf politisches Asyl ist unbedingt unterstützenswert. Spannend wird es, wenn das Verhalten nicht zur Situation passt.

Gedankenspiele

Irgendwie kann ich es mir nicht vorstellen. Wie denn auch, schließlich lebe ich in einem relativ sicheren Land. Aber nur mal angenommen, Deutschland würde durch einen heftigen Bürgerkrieg entzweit. Ich müsste aus diesem Krieg fliehen und würde nach einer langen Reise in einem sicheren Land ankommen. Ich wäre durch eine Reihe von Ländern gezogen, deren klimatische Verhältnisse meiner Heimat recht gut entsprochen hätten. Aber ich wollte weiter, mein Ziel wäre das reiche Land weit im Norden. Dort, wo Milch und Honig fließt. Ein Land allerdings, mit einem Klima deutlich kälter als mein Heimatland. Ich träfe auf Bewohner, deren Sprache ich nicht verstünde und deren Gewohnheiten ganz anders wären. Sie hätten vielleicht ungewohnte Verkehrsmittel und vor allem würden sie nicht meinen Gott anbeten, sondern eine andere Gottheit mit einem fremdartigen Namen. Sie täten dies an bestimmten Orten mitten in der Natur mit seltsamen Riten, und zum Beten in ein Haus mit Turm und Glocke zu gehen wäre ihnen vollkommen fremd. Ihre religiösen Gebräuche wären vollständig anders, der gesellschaftliche Umgang … na, sagen wir „gewöhnungsbedürftig“.

Was wären meine Gedanken, meine Gefühle? Wie würde ich mich verhalten?

Würde ich mich in dieser hypothetischen Situation über die Kälte beschweren und eine wärmere Behausung einfordern, oder würde ich um eine warme Decke bitten? Würde ich das Schlangestehen bei der Essensausgabe lautstark bemängeln oder dankbar dafür sein, dass ich überhaupt versorgt werde? Würde ich in den nächsten Laden gehen, randalieren und mitnehmen, was mir gefällt, ohne zu bezahlen? Oder würde ich mich bemühen, die Sitten und Gebräuche meines Gastlandes zu verstehen und zu befolgen? Würde ich mich mit ein paar hurtig zusammen gestopften Müllsäcken vor einen Supermarkt lümmeln und unter lautstarkem Gebrüll mit einem Pappbecher auf den Boden klopfen, um weitere Zahlungen einzufordern? Oder wäre ich dankbar, in einem sicheren Land leben zu dürfen, kostenlos Essen und Unterkunft zu bekommen, und mich bemühen, mit den Betreuern zusammen deren Sprache zu erlernen? Würde ich mein Geschäft in der Ecke meines Schlafraumes verrichten und dann die Reinigung fordern, oder würde ich die dafür üblichen Einrichtungen benutzen? Würde ich medizinische Untersuchungen einfordern und anschließend die Ärztin, die mich untersuchen möchte, angreifen? Würde ich mich als Kriegsflüchtling mit der neuen Situation arrangieren, oder würde ich danach streben, meinen Helfern das Leben möglichst schwer zu machen?

Ich weiß, wie ich reagieren würde, jedenfalls jetzt, in dieser hypothetischen Situation. Nun fragen Sie sich bitte, lieber Leser, was Sie tun würden. Fragen Sie sich, was Sie als Flüchtling täten, und was Sie von Kriegsflüchtlingen erwarten. Und beobachten Sie, was um Sie herum geschieht. Beobachten Sie, lernen Sie, differenzieren Sie, und dann ziehen Sie ihre Schlüsse ungeachtet jeder empfundenen oder auf-oktroyierten „political correctness“.

Sehfahrer

Als Amateurfotograf bewege ich mich oft in den Lebensbereichen anderer Menschen. So interessant das ist, so schwierig ist manchmal die Abgrenzung zwischen Neugier und höflicher Distanz. Durch meine Tätigkeit als freier Journalist versuche ich nun, Bild und Sprache zu einer Einheit zu verbinden.

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