Unwörter und deren Entstehung

Unwörter und deren Entstehung

luegenpressDer Begriff „Lügenpresse“ ist in den letzten Jahren wieder zu einer gewissen Berühmtheit gekommen und nicht umsonst zum Unwort des Jahres 2014 gewählt worden (Wikipedia). Es gibt sicher keine einfache Erklärung dazu, zumal laut Wikipedia dieser Begriff im 19. und 20. Jahrhundert auf allen Seiten Verwendung fand, primär um die Pressearbeit des politischen oder ideologischen Gegners herabzuwürdigen. Und das funktioniert offenbar ganz hervorragend.

Im Internet ist es nicht immer einfach, zu den Originalquellen vorzudringen. Daher will ich anhand eines Artikels aus der FAZ vom 2. Oktober darlegen, wie es meiner Ansicht nach kommen kann, dass viele Menschen den obigen Begriff für berechtigt halten. Ein entscheidender Aspekt dabei ist die Frage, wie eigentlich zitiert wird.

Man lese bitte zunächst diesen Artikel und beachte das darin verlinkte Handyvideo, insbesondere dessen Tonaufzeichnung. Der O-Ton des Videos stellt diese im Artikel als „Aufforderungen“ bezeichneten Worte deutlich umfangreicher dar. Dort ist über einen Zeitraum von 30 Sekunden zu hören, dass der Beamte den Täter mehrfach, wiederholt, und in verschiedenen Varianten auffordert, das Messer wegzulegen. Auch ist klar zu hören, dass diese Aufforderungen sich deutlich in ihrer Aussage verstärken:

  1. Weg mit dem Messer!
  2. Weg mit dem Messer oder ich schieße!
  3. Weg mit dem Messer, oder ich schieße dir ins Bein!

Betrachte ich den gesamten Artikel, dann ist die Berichterstattung der FAZ angenehm sachlich. In der Mitte des Artikels steht ein zentraler Absatz, der das wesentliche gut zusammenzufassen scheint:

„Aufforderungen, das Messer wegzulegen habe der 22-Jährige ignoriert. Stattdessen lief er plötzlich mit dem Messer in der Hand auf einen Polizeibeamten zu. Dieser griff zur Waffe und schoss. Der 22-Jährige wurde in ein Krankenhaus gebracht. Er ist nicht lebensgefährlich verletzt. Die Ermittlungen hat eine Mordkommission übernommen.“

Die Frage, welche Textstelle wahrscheinlich in anderen Medien und Blogs zitiert würde, möchte ich besonders hervorheben. Es ist nämlich meine Befürchtung, dass man sich auf einen kleinen, sehr kurzen Textausschnitt beschränken würde, der der aktuell aufgeheizten und polarisierten Stimmung entspräche.Wenn dieser dann noch kurz genug ist, um den Titel des Beitrags zu formen, dann sorgt eine provokative Beschreibung sicher für eine Menge Klicks. Und das scheint oft das Ziel zu sein.

Wenn zum Beispiel nur „Stattdessen lief er plötzlich mit dem Messer in der Hand auf einen Polizeibeamten zu. Dieser griff zur Waffe und schoss.“ zitiert würde, würde es den Eindruck erwecken, dass alles ganz schnell ging und insbesondere die Polizei fast wie im Wilden Western nach dem Motto „erst schießen, dann fragen“ vorginge. Dies stünde dann zwar im krassen Gegensatz zu dem aufgezeichneten Ton und dem Artikel zufolge auch zum Hergang, doch beides würde nach einigen Zitaten von Zitaten niemand mehr wahrnehmen.

Die Gefahr, dass nur dieser eine Absatz zitiert wird, ist meines Erachtens ziemlich groß. Eine Hinzufügung von „Mehrfache“ zu Beginn des Absatzes hätte ich für besser gehalten, was aber natürlich keine Garantie dafür ist, dass dies auch mit zitiert wird.

Hinterher ist man immer klüger

Nicht unwichtig bei der Beurteilung einer solchen Situation ist auch die Frage, wie lange man eigentlich Zeit hat, eine Entscheidung zu treffen. Die halbe Minute zwischen der ersten Aufforderung auf dem Video (dem möglicherweise weitere vorausgegangen sind) und dem Schuss mag uns jetzt so vorkommen, als ob man jede Menge Zeit hätte, zu überlegen. Zum ruhigen Überlegen wird aber in so einer Situation niemand kommen, denn die unmittelbare Bedrohung wird sich ganz anders anfühlen, als die Beurteilung am Fernsehschirm. Bei Günter Jauch wären sicher auch alle Zuschauer Millionäre geworden! In Anbetracht einer gefährlichen und potentiell tödlichen Situation sieht das ganz anders aus. Scharfe Äußerungen wie ein „So geht das aber nicht, Herr Wachtmeister!“ sollte man sich dann vielleicht doch verkneifen. Und wer die Gefährlichkeit eines Messers nicht richtig einschätzen kann, sollte sich mal an eine Selbstverteidigungsschule wenden und ein Probetraining vereinbaren.

Dieser Kommentar wendet sich nicht gegen den Artikel, auch nicht gegen die Redaktion der FAZ oder die Art der Berichterstattung. Nicht nur dass der gesamte Artikel auch das Video enthält, ist überaus begrüßenswert. Die Beschreibung insgesamt und die Bearbeitung des Videos zum Schutz der Beteiligten sind meiner Ansicht nach sehr professionell. Und man kann es der Redaktion nicht vorwerfen, wie andere den Beitrag möglicherweise zitieren. Auch professionelle Journalisten können das nicht beeinflussen. Insofern ist es Sache eines jeden, für eine angemessene Weitergabe und ausreichende Zitate zu sorgen, um dem Begriff „Lügenpresse“ ein paar Fakten und positive Beispiele entgegenzusetzen. Das ist eine Herausforderung für alle haupt- und nebenberuflichen Journalisten, und für alle Blogger.

Christoph Jüngling

Ich bin seit über 25 Jahren selbständiger Softwareentwickler und IT-Berater. Für die Nordhessen-Rundschau schreibe ich unter anderem über IT-relevante Themen mit der Hoffnung, die Hintergründe auch für Laien verständlich zu machen. Denn besonders in der IT-Welt gilt: "Nichts ist so, wie es scheint."

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