Keine Deutsche (Leit)Kultur?

Der Begriff der „Leitkultur“ geistert in letzter Zeit häufiger durch die Medien und folglich auch durch die Köpfe – oder ist es umgekehrt? Entstand er in den Köpfen der Massen und schaffte von dort erst den Sprung in die Medien? Eigentlich ist das ziemlich egal, er ist jetzt erst mal da, und wir müssen sehen, was wir damit anfangen. Doch was ist das eigentlich: Leitkultur?

In den 70er Jahren war es üblich, dass man eine Zeit lang in die Kirche zu gehen hatte, bevor man konfirmiert wurde. Da war einerseits der Gottesdienst, andererseits auch der Konfirmandenunterricht, deren regelmäßige Besuche durch einen Stempel in einem kleinen blauen Heft dokumentiert wurden. Es war die Zeit, als „diskutieren“ irgendwie ein interessanter neuer Trend war. Also diskutierten wir über alles und jeden, sehr zum Missfallen diverser Eltern und Lehrer. Und natürlich versuchten wir das auch im Konfirmandenunterricht.

Eine ältere Dame leitete die wöchentlichen Stunden, und sie hatte eine bemerkenswert klarsichtige Einstellung zu uns, der Jugend. Sie meckerte nicht über uns, sie redete mit uns. „Ihr jungen Leute wollt über alles diskutieren, auch über die Kirche. Dann müsst ihr aber auch wissen, worüber ihr reden wollt. Und genau deswegen seid ihr hier!“ Damals wie heute fand und finde ich diese Einstellung vorbildlich. Wie oft rege ich mich über Menschen auf, die „rumlabern“, anstatt Fakten vorzubringen? Sie wissen nicht, worüber sie reden, aber sie reden. Wie oft bekomme ich, wenn ich dann intensiver nachfrage, nur Plattitüden und leere Worthülsen zu hören, bis am Ende nur noch „das sagt/macht man so“ übrig bleibt?

Wie gesagt, ich bin ein Freund von Definitionen, und wenn die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung Aydan Özoguz (SPD) behauptet, „eine spezifisch deutsche Kultur [sei] jenseits der Sprache schlicht nicht identifizierbar“ (Zitat nach Epochtimes), dann wüsste ich doch gern, was das denn eigentlich ist, Kultur oder auch Leitkultur, egal, ob wir es nun haben oder nicht. Und ich würde gerne wissen, ob es weltweit betrachtet eher die Ausnahme oder die Regel ist, dass ein Volk außer der Sprache keine spezifische Kultur hat. Man könnte die Frage ja mal exemplarisch im Hinblick auf die Franzosen stellen, auf die Briten oder die Türkei. Ist es der 5-Uhr-Tee der Briten, die japanische Teezeremonie, der Spring Break in den USA, der österreichische Perchtenlauf oder das nordische Mittsommerfest? Ist das alles vielleicht Ausdruck einer Leitkultur, die sich diese Länder sicher auch nicht nehmen lassen möchten?

Zum Nachlesen: Der Gastartikel der genannten Autorin wurde übrigens im Tagesspiegel unter dem Titel „Leitkultur verkommt zum Klischee des Deutschseins“ veröffentlicht.

Leiten + Kultur = Leitkultur?

Zunächst erkennen wir an dem zusammengesetzten Begriff, dass er aus „leit“ und „Kultur“ besteht, wobei „leit“ zweifellos der Stamm des Wortes „leiten“ ist. Nicht zu verwechseln mit „Leidkultur“, ein gern genommenes Wortspiel in diesem Zusammenhang. Die Grenze zwischen „leiten“ und „leiden“ mag je nach Situation auch fließend sein, aber zumindest bei der Leitkultur scheinen sich die Verwender dieses Begriffes einig zu sein, dass es um „leiten“ im Sinne von „anleiten“ oder „führen“ geht. Eine Kultur, die leitet, wäre also gewissermaßen die „Leitlinie“, an der man sich als Neuling im Lande tunlichst orientieren sollte.

Jürgen Fritz schreibt in einem Beitrag auf Philosophia Perennis (Fettdruck wie im Original):

Der Ausdruck ‚Kultur‘ kommt aus dem Lateinischen ‚cultura‘ und bedeutet zunächst:‚Bearbeitung‘, ‚Pflege‘, ‚Ackerbau‘. Der Kulturbegriff ist also ein Gegenbegriff zur vorgefundenen, unbearbeiteten, nicht eigens gepflegten ‚Natur‘. Kultur bezeichnet im weitesten Sinne alles, was der Mensch selbst gestaltend hervorbringt, im Unterschied zu der von ihm nicht geschaffenen und nicht veränderten Natur.

Der Text ähnelt in Teilen frappant der Wikipedia, ist aber aus meiner Sicht inhaltlich nicht zu beanstanden. Im weiteren Verlauf führt Fritz zahlreiche Beispiele für Forscher, Wissenschaftler und Komponisten an (um nur einige zu nennen), von denen sicher gerade die letzteren unzweifelhaft dem Kulturbegriff zuzurechnen sind. Interessant ist seine Schlussfolgerung: „Die vermeintliche Stärke der anderen ist unsere eigene Schwäche. Dies sollten wir ändern.“

Gerade der Wikipedia-Artikel zeigt auf, dass die Definition dessen, was Kultur ist, keineswegs einfach ist. Deswegen dürfte es auch nicht ganz so einfach sein, zu behaupten, dass „eine spezifische deutsche Kultur nicht identifizierbar“ sei. Denn wenn ich nicht genau weiß, was dieses „Kultur“-Dings eigentlich ist, ist auch die Behauptung, jemand habe keine, schwierig nachzuvollziehen.

Immerhin ist die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung laut Wikipedia 1967 in Hamburg geboren und hat seit 1989 die deutsche Staatsbürgerschaft. Sie hat also offensichtlich „türkische Wurzeln“ und könnte daher beide Kulturen kennengelernt haben, die deutsche und die türkische. Ob das bereits ausreicht, einer davon die Kultur abzusprechen, bezweifle ich, aber es könnte eine gute Basis sein. Wikipedia erwähnt in dem Kapitel „Kontroversen“ auch: „Özoguz hat zwei Brüder, Yavuz und Gürhan Özoguz, die das islamistische Internetportal Muslim-Markt betreiben.“ Ebenda ist auch zu lesen, dass sie gegen ein Verbot von Kinderehen ist (oder zumindest 2016 war). Eine interessante Kontroverse für eine deutsche Politikerin im Hinblick auf zumindest aktuelle gesetzliche Regelungen. Aber auch das ist ein Teil der Meinungsfreiheit, die wir akzeptieren müssen, wenn wir sie verteidigen wollen.

Schwerer Stoff, diese Kultur

Wenn es also nicht so einfach ist, zu verstehen, was der Begriff „Kultur“ überhaupt umfasst, wie steht es dann mit der zweiten Hälfte des kontroversen Begriffes, dem „Leiten“? Ist es denn überhaupt politisch korrekt, von „leiten“ zu sprechen? Immerhin ist die bedeutungstechnische Nähe zum „führen“ nicht zu leugnen, und das könnte glatt den Eindruck erwecken, Leitkultur habe irgend etwas mit Nazis zu tun, deren „Führer“ ja in unserer Geschichte maßgeblich vorkommt. Von dort ist es ein Leichtes, diejenigen, die eine Leitkultur einfordern, in die Nazi-Ecke zu stellen. Das wird heutzutage sehr gern und sehr schnell gemacht, wobei es den Vertretern dieser Denkweise vermutlich wiederum schwer fallen dürfte, den Begriff „Nazi“, wie er heute verwendet wird, zu definieren.

Insofern ist auch „leiten“ schwieriges Terrain, gewissermaßen eine Gratwanderung zwischen historischer Wahrheit und aktuellem Selbstverständnis. Dass die deutsche Geschichte weit mehr aufzuweisen hat als die Zeit des Nationalsozialismus‘ hat vielleicht der eine oder andere noch aus dem Schulunterricht im Gedächtnis. Die in obigem Artikel zahlreich genannten Beispiele mögen dem Gedächtnis auf die Spünge helfen. Im Zweifel hilft sicher das Internet weiter, in dem man ja bekanntlich alles findet, was man sucht, auch jenseits der jeweiligen Filterblase.

Auf jeden Fall scheint die Leitkultur wirklich schwierig zu finden zu sein, egal in welchem Land man sie nun ausmachen will. Oder könnten Sie, lieber Leser, auf Anhieb sagen, welche Leitkultur Uruguay aufzuweisen hätte? Da wäre es doch sicher ein Leichtes, aus dem eigenen Nichtwissen zu schließen, dass dieses Land gar keine hätte. Das könnte sich als ein fataler Fehler herausstellen, müsste man den Beweis ernsthaft antreten.

 

Christoph Jüngling

Ich bin seit über 25 Jahren selbständiger Softwareentwickler und IT-Berater. Für die Nordhessen-Rundschau schreibe ich unter anderem über IT-relevante Themen mit der Hoffnung, die Hintergründe auch für Laien verständlich zu machen. Denn besonders in der IT-Welt gilt: "Nichts ist so, wie es scheint."

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